Bedrohte Existenzen, existenzielle Erfahrungen
Ein leider recht vergessener Autor, aber ein ganz schön rasant erzähltes, mit unvermuteten Brüchen und ausgefeilten psychologischen Wendungen versehenes Buch: „Filippinis Garten“ von Walter Matthias Diggelmann. Der Roman beginnt mit den Worten beginnt mit den Worten: “ ‚Er ist also tot?, sagte Stephan.“
Darum geht es: Stephan ist ein halb erfolgreicher Architekt, in seinen kühnsten Vorstellungen entwirft er Häuser, denen die Wirklichkeit nicht standhält und die deshalb ungebaut bleiben müssen. Ähnlich absolut ist er in seinen Vorstellungen über die Liebe. Seine Furcht, die Ehe könne den Gefühlen Zwänge auferlegen, macht ihn mißtrauisch und ungerecht gegenüber seiner jungen Frau. Wie bedroht dieses äußerliche Bild eines erfolgreichen Mannes ist, wird deutlich, wenn Stephan mit den unbewältigten Kindheitserlebnissen konfrontiert wird. Sie hindern ihn daran, wirklich glücklich zu sein.
„Filippinis Garten“: Ein wildes Kraut in fremden Gärten
„Filippinis Garten“ war Diggelmanns letzter Roman: 1979 starb der Autor, erst 52-jährig, an einem Hirntumor. Das Kernthema des kraftvollen Romans entnahm Diggelmann, wie oft in seinem Werk, dem eigenen Leben. Die krisenhafte Beziehung zu seiner eigenen Mutter ist zum Thema des letzten Romans geworden. Am 1. Dezember 1955 schrieb Diggelmann an seinen Halbbruder, den Schauspieler Fred Haltiner: „Vergiss nicht, dass ich (…) jahrelang, als Kind, als Jüngling, um Mamas Liebe und Verstehen gekämpft habe, und nie, aber auch gar nie ist sie mir entgegengekommen. (…) Mir scheint, ich bin weder von einer Mutter geboren noch von einem Vater gezeugt worden. Eher bin ich wie ein wildes Kraut in fremden Gärten gewachsen, wo man sich bemüht hat, mich auszutilgen.“
Klara Obermüller, Diggelmanns Frau, schrieb 1992 über ihn: „Geschichten ausprobieren wie Rollen auf dem Theater, Geschichten vorbringen zur Verteidigung der eigenen Position, Geschichten als Bollwerk gegen die Welt, Geschichten als Halt und Ort, sich seiner selbst und der eigenen Wahrheit gewiss zu werden.“
Mir war die Lektüre von „Filippinis Garten“ ein Vergnügen und die (Wieder-)Entdeckung eines Autors, den man zwar gern in eine Reihe mit Frisch oder Kurt Marti setzt, weil er wie sie das literarische Motiv des Geschichtenerzählens als Überlebensstrategie nutzt. Das trieb er ins Extrem, indem er sich, Jahrzehnte vor Instagram und Co., vor der ganzen Welt präsentierte, ungeschminkt, ehrlich, selbstvernichtend im Film „Die Selbstzerstörung des Walter Matthias Diggelmann“ (Reni Mertens / Walter Marti, 1973).
Vom Buchhandel aber wird er leider zu oft übersehen und das muss sich ändern. Lest Diggelmann!
Hinweis: Bei der Schweizer Edition8 ist eine Werkausgabe Diggelmanns verfügbar. Sein Werk umfasst zehn Romane, drei Jugendbücher, mehrere Erzählbände, zahlreiche Hörspiele, Filmszenarien, Theaterstücke und Fernsehspiele, Reportagen, Tagebücher und Gedichte sowie unzählige Kolumnen, in denen er zu sozialen und politischen Themen des Tages Stellung genommen hat.
Erstausgaben finden sich auf allen guten Antiquariatsportalen und ein engagierter Buchhändler wird sie aufzutreiben wissen!